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Gute(r) Hoffnung nach jähem Ende

Folgeschwangerschaften nach Fehlgeburt, Totgeburt, Säuglingstod

Guter-Hoffnung-nach-jaehem-EndeSeit 1988 besteht für Eltern, die ihre Kinder während der Schwangerschaft oder im ersten Lebensjahr verloren haben, ein Betreuungsangebot an der Familienbildungsstätte Aachen. Dieses Betreuungsangebot hat sich im Laufe der Zeit in Aachen etabliert und wird mittlerweile von vielen betroffenen Eltern in Anspruch genommen.

Nachdem die Begleitung trauernder Eltern über einige Jahre von Gerda Palm als freier Mitarbeiterin geleistet wurde, steht für diese Arbeit seit 1993 eine Halbtagsstelle zur Verfügung.

Das Angebot umfaßt:

  1. die direkte Betreuung betroffener Mütter und Väter
  2. a) im Krankenhaus
    b) in Trauergruppen
    c) in speziellen Geburtsvorbereitungsgruppen
    d) in Einzelberatung
  3. die Durchführung von Fortbildungen für betroffene Berufsgruppen, wie Hebammen, Ärzte, Säuglingsschwestern, Geburtsvorbereiterinnen, Medizinstudenten – mit dem Ziel, eine allmähliche Bewußtseins- und Verhaltensänderung zu bewirken
  4. Öffentlichkeitsarbeit – mit dem Ziel, das Thema »früher Kindstod« aus der Tabuzone herauszuholen
  5. die Durchführung von Veranstaltungen, z.B. Gedenkgottesdienste für fehl- oder totgeborene Kinder oder (Trauer)Seminare
  6. eine Leihbibliothek mit Büchern, Videos und Artikeln zum Thema »Eltern trauern«, sowie zu den Themen »Tod und Trauer« im allgemeinen.

Einen der Schwerpunkte dieser Arbeit bildet der Sonderkurs Geburtsvorbereitung. Während Trauergruppen für früh verwaiste Eltern mittlerweile in vielen größeren Städten entstanden sind, ist das Angebot an speziellen Geburtsvorbereitungskursen für Paare nach dem Verlust eines Kindes noch verschwindend gering. Die Erfahrungen, die wir in Aachen hiermit gemacht haben, können vielleicht ein Denkanstoß sein oder sogar eine Ermutigung, auch woanders diesen Versuch zu wagen und trauernde Eltern während einer Folgeschwangerschaft auf diese Weise hilfreich zu unterstützen.

Schwanger in der Trauergruppe?

Seit 1988 existiert an der FBS Aachen eine Trauergruppe für Mütter und Väter, die ihre Kinder durch Fehlgeburt, Totgeburt oder Säuglingstod verloren haben. Dieses Angebot etablierte sich relativ schnell, sodaß nach zwei Jahren mindestens 10 betroffene Eltern kontinuierlich die Gruppe besuchten. Die Gruppe ist offen, das heißt, ein Einstieg ist jederzeit möglich. Die Verweildauer in der Gruppe beträgt 3-24 Monate.

Da die meisten der größtenteils noch jungen Eltern sehr bald nach dem frühen Verlust eines Kindes eine neue Schwangerschafl anstreben, ergab sich nach einiger Zeit zwangsläufig die Frage, was geschieht, wenn ein Paar aus der Gruppe erneut schwanger wird. Bei uns war es so, daß die meisten der schwangeren Frauen weiterhin in der Gruppe bleiben wollten, da sie hier ein Forum für ihre Ängste und Probleme gefunden hatten. Gerade diesen Schonraum der Gruppe, wo sie sehr viel Verständnis und Fürsorge durch die anderen erfahren hatten, wollten sie in dieser besonders belasteten Zeit der nächsten Schwangerschafl nicht aufgeben. Mit der Zeit wuchs das Unbehagenund das Gefühl des Unvermögens, den Bedürfnissen der Trauernden und der Schwangeren gleichermaßen gerecht zu werden. Es war oft zu spüren, daß die Frauen, die nun wieder »guter Hoffnung« waren, durch die leidvollen Erfahrungen vor allem neu hinzukommender TeilnehmerInnen emotional sehr belastet wurden. Auf der anderen Seite war es für Frauen, die ihr Baby gerade verloren hatten, manchmal unerträglich, einer Schwangeren so nahe zu sein. Nach einigen Überlegungen reifte dann der Entschluß, dieses Problem durch die Einrichtung eines speziellen Geburtsvorbereitungskurses zu lösen. Dieses Angebot besteht nun an unserer Institution seit 1991, und da wir nicht auf bereits vorhandene Modelle zurückgreifen konnten, haben wir mit der Zeit unser eigenes Konzept entwickelt, das im folgenden vorgestellt wird.

Bedürfnisse der Eltern bestimmen den Ablauf

Wie bei anderen »normalen« Geburtsvorbereitungskursen werden auch bei unserem Kurs die Kosten teilweise oder vollständig von den zuständigen Krankenkassen den TeilnehmerInnen zurückerstattet. Die Treffen finden vierzehntägig statt. Teilnahme ist bereits ab der 12. SSW und bis zur Geburt möglich. Die spezielle Körperarbeit (Atem-und Entspannungstechniken,Massageübungen und Gymnastik) wird von einer Krankengymnastin übernommen und meist an drei Abenden pro Kurs durchgeführt. Wie in den anderen GV-Kursen gehören auch bei uns Infomationsabende mit zum Repertoire. Gespräche mit einem Kinderarzt, einerHebamme sowie Kreissaalführungen sind zugeschnitten auf diese spezielle Elterngruppe und werden von Fachleuten durchgeführt, die besonders sensibilisiert sind im Umgang mit trauernden Eltern und diesen ein zusätzliches Maß an Sicherheit vermitteln können.

Die TeilnehmerInnen bestimmen weitgehend die Themen selbst – abhängig von ihren Interessen und ihrer Situation. Wenn z.B. kein Interesse an Säuglingspflege besteht, weil die meisten bereits damit vertraut sind oder aber solche »Äußerlichkeiten«als unwesentlich erachten, verzichten wir darauf und wenden uns den Fragen und Problemen zu, die den schwangeren Paaren mehr »auf der Seele brennen«. Vorrangig ist also immer das Eingehen auf aktuelle Bedürfnisse und auf die aktuelle Situation der TeilnehmerInnen. Das wichtigste Ziel dieser speziellen Geburtsvorbereitung liegt darin, durch Gespräche, Austausch und spezielle Entspannungsübungen seelische Belastungen abbauen zu helfen. Oft besteht gerade bei Eltem, die ihr Kind in der Schwangerschaft verloren haben, eine innere Blockade, zu dem nun erwarteten Kind eine Beziehung aufzubauen – aus der Angst heraus, wieder einen Verlust erleiden zu müssen und wieder in ihren Hoffnungen enttäuscht zu werden. Visualisierungsübungen sowie Einstimmung auf das Kind und Kontaktaufnahme mit ihm in körperlich-seelisch entspanntem Zustand können auf behutsame Weise dazu beitragen, diese Barrieren zu überwinden und innere Ressourcen zu mobilisieren.

Ein Konzept gegen die Angst

Von den vielen verschiedenen Gefühlen, die eine Schwangerschaft nach dem Verlust eines Kindes begleiten, kristallisiert sich die Angst als die Emotion heraus, die am bedrohlichsten erlebt wird. In medizinischen Untersuchungen wurde festgestellt, daß Folgeschwangerschaften, »mit erhöhten schwangerschaftspezifischen Ängsten« verbunden sind.

1972 bereits wurde ein Konzept zur Betreuung von Frauen bei einerFolgeschwangerschaft begründet, das in den letzten Jahrzehnten unter dem Stichwort »Tender loving care« weiter entwickelt wurde. Dieses Konzept wendet sich an ÄrztInnen, die Frauen in einer Schwangerschafi nach dem Verlust eines Kindes betreuen. Kernstück dieser Betreuung sind folgende Punkte:

  • Die Ärztin/der Arzt vermittelt den Frauen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit
  • Den Schwangeren wird eine psychologische Begleitung Diese sollte, wenn sie gewünscht wird, aus stützenden psychotherapeutischen Einzel- oder Gruppengesprächen bestehen. Analytisch orientierte Therapien können in dieser Zeit eher schädlich als nützlich sein.
  • Die Frauen haben die Möglichkeit, ihre Frauenärztin / ihren Frauenarzt aufzusuchen, so oft sie es für nötig erachten. Eine häufige Ultraschall- oderHerztonkontrolle sollte bei Bedarf möglich sein.
  • Viel Ruhe für die Schwangere, großzügige Indikation zur Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
  • Integration in eine Schwangerengruppe mit ähnlicher Problematik
  • Den Paaren wird empfohlen, während der Schwangerschaff nicht miteinander zu schlafen und keine Fernreisen zu unternehmen
  • Das Erlernen von Streßbewältigungsstrategien. Es kann hilffeich sein, schon vor der Folgeschwangerschaft Streßbewältigungsstrategien einzuüben. Bewährt haben sich Autogenes Training nach Schultz, progressive Muskelrelaxation nach Jakobsen, Systematische Desensibilisierung nach Tunner und die kognitive Selbstinstruktionstherapie.

All diese Punkte sind natürlich nicht für jede Schwangere geeignet. So ist z.B.ein Koitusverbot u.a. bei Frauen mit einer Neigung zu wiederholten frühen Fehlgeburten indiziert, nicht alle Frauen brauchen fachliche psychologische Unterstützung. Die Betreuung eines erneut schwanger gewordenen Paares sollte individuell gestaltet werden.

Guter-Hoffnung-nach-jaehem-EndeIn medizinischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß die Schwangerschaften von Frauen, die mit dem »Tender loving care-Konzept« betreut wurden, erheblich häufiger ein gutes Ende fanden als konventionell betreute Schwangerschaften.

In der nebenstehenden Tabelle werden Ergebnisse der Wissenschaftler Stray-Petresen, James und Weil dargestellt, die in verschiedenen, voneinander unabhängigen Untersuchungen das oben vorgestellte Konzept (tender loving care – TLC) mit »normal« betreuten Schwangerschaften verglichen.

In der Gruppe mit dem TLC-Konzept endeten erheblich mehr Schwangerschaften mit einem gesundem Kind (80 – 85 %) als in »konventionell« betreuten Schwangerschaßen (26 – 36%). Die Frauen, die in die Untersuchungen miteinbezogen wurden, hatten zuvor ein oder mehrere Kinder verloren.

Nach den Erfahrungen, die wir im Laufe der Jahre mit früh verwaisten Eltern sammeln konnten, sind wir der Überzeugung, daß diese Paare in einer folgenden Schwangerschaft nicht allein gelassen und ihnen jede mögliche Unterstützung zuteil werden sollte. Ein spezieller Geburtsvorbereitungskurs bietet die Möglichkeit einer kontinuierlichen und intensiven Begleitung in dieser schwierigen Zeit.

Natürlich gibt es immer wieder auch Vorbehalte gegen diese Kurse – so zum Beispiel der Einwand, daß sich die Ängste der Teilnehmerinnen gegenseitig hochschaukeln könnten oder daß die Gedanken und Gefühle immer wieder um das tote Kind kreisen und die vergangene Trauer wiederaufbrechen könnte.

Hierbei liegt es in der Einschätzung der Geburtsvorbereiterin, ob sie im Artikulieren von Ängsten eher eine Bedrohung sieht oder eine Chance, sich über seine Ängste klarzuwerden und diese im Schonraum einer unterstützenden Atmosphäre überwinden zu lernen. Ein weiteres wichtiges Argument für diese besonderen Kurse liegt in der Erfahrung, daß Paare, die ein Baby verloren haben, sich in den meisten Fällen scheuen, an einem »normalen« GV Kurs teilzunehmen – zum einen, um die anderen, unbeschwert Schwangeren nicht mit ihren leidvollen Erfahrungen zu belasten, zum anderen, weil sie oft wenig Verständnis aufbringen können für deren ihnen oft banal erscheinende Fragen und Probleme. Für Eltern, die einmal eine glücklose Schwangerschaft erlitten haben, ist nicht die Frage von Bedeutung, wie oft das Baby nachts schreien wird – für diese Eltern ist zunächst nur eines von Bedeutung: daß ihr Baby überhaupt schreien wird, daß sie bei der nächsten Geburt endlich ein lebendes, gesundes Kind im Arm halten dürfen…

Gerda Palm, Dipl.-Pädagogin, arbeitet seit 1988 mit trauernden Eltern, seit 1993 im Rahmen einer Halbtagsstelle an der Familienbildungsstätte Aachen. Sie hat drei lebende Kinder. Ihr Sohn David wurde 1985 totgeboren.

Jan Salzmann, Arzt, ist Vater von den Drillingen Tim, Lina und Jonas, die 1994 nach einer Frühgeburt gestorben sind. Seit 1995 arbeitet er im Rahmen des oben vorgestellten Betreuungsangebotes für trauernde Eltern mit Gerda Palm zusammen und ist in der Inneren Medizin im Aachener Klinikum tätig.

(aus: »Verwaiste Eltern, Leben mit dem Tod eines Kindes« 8/1996. Seite 53ff)