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Initiative RegeNBOGEN: Neue Hoffnung wagen

Folgeschwangerschaften nach Fehlgeburt, Totgeburt, Säuglingstod – Ein Konzept gegen die Angst.

Von Gerda Palm und Jan Salzmann

Von den vielen verschiedenen Gefühlen, die eine Schwangerschaft nach dem Verlust eines Kindes begleiten, kristallisiert sich die Angst als die Emotion heraus, die am bedrohlichsten erlebt wird. ln zahlreichen medizinischen Untersuchungen wurde dargelegt, dass Folgeschwangerschaften mit erhöhten, überwiegend „schwangerschaftsspezifischen“ Ängsten einhergehen.

1972 bereits wurde ein Konzept zur Betreuung von Frauen bei einer Folgeschwangerschaft begründet, das in den letzten Jahrzehnten unter dem Stichwort „Tender loving care“ weiterentwickelt wurde.

Kernpunkte dieser Betreuung sind folgende Punkte:

  • Die Ärztin/der Arzt vermittelt den Frauen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit
  • Den Schwangeren wird eine psychologische Begleitung angeboten. Diese sollte, wenn sie gewünscht wird, aus stützenden psychotherapeutischen Einzel- oder Gruppengesprächen bestehen. Analytisch orientierte Therapien können in dieser Zeit eher schädlich als nützlich sein.
  • Die Frauen haben die Möglichkeit, ihre Frauenärztin/ihren Frauenarzt aufzusuchen, so oft sie es für nötig erachten. Eine häufige Ultraschall- oder Herztonkontrolle sollte bei Bedarf möglich sein.
  • Viel Ruhe für die Schwangere, großzügige Indikation zur Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Integration in eine Schwangerengruppe mit ähnlicher Problematik.
  • Den Paaren wird empfohlen, während der Schwangerschaft nicht miteinander zu schlafen und keine Fernreisen zu unternehmen.
  • Das Erlernen von Stressbewältigungsstrategien. Es kann hilfreich sein, diese schon vor der Folgeschwangerschaft einzuüben. Bewährt haben sich Autogenes Training nach Schultz, progressive Muskelrelaxation nach Jakobsen, Systematische Desensibilisierung nach Tunner und die kognitive Selbstinstruktionstherapie.

 

All diese Punkte sind natürlich nicht für jede Schwangere geeignet. So ist z.B. ein Koitusverbot v.a. bei Frauen mit einer Neigung zu wiederholten frühen Fehlgeburten indiziert, nicht alle Frauen brauchen fachliche psychologische Unterstützung. Die Betreuung eines erneut schwanger gewordenen Paares sollte individuell gestaltet werden.

In medizinischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Schwangerschaften von Frauen, die mit dem „Tender-loving-care-Konzept“ betreut wurden, erheblich häufiger ein gutes Ende fanden als konventionell betreute Schwangerschaften.

ln der nachstehenden Tabelle werden Ergebnisse der Wissenschaftler Stray-Petresen, James und Weil dargestellt, die in verschiedenen, voneinander unabhängigen Untersuchungen das oben vorgestellte Konzept (tender loving care = TLC) mit „normal“ betreuten Schwangerschaften verglichen.

ln der Gruppe mit dem TLC-Konzept endeten erheblich mehr Schwangerschaften mit einem gesunden Kind (80 – 85 %) als in „konventionell“ betreuten Schwangerschaften (26 – 36%). Die Frauen, die in die Untersuchungen mit einbezogen wurden, hatten zuvor ein oder mehrere Kinder verloren.

Mittlerweile liegen jahrzehntelange Erfahrungen mit Tender-loving-care vor, die den Nutzen für die Betroffenen bestätigen. Auch wenn die meisten Untersuchungen mit Paaren durchgeführt wurden, die unter so genannter habitueller Abortneigung litten (mindestens drei aufeinander folgende Fehlgeburten eines Elternpaares), lassen sich die Erfahrungen durchaus auf Familien und Paare übertragen, die von Totgeburt oder

„Frühtod“ betroffen sind. Geburtshilflich-psychosomatische Forschungen haben jedoch auch einige neue Aspekte beleuchtet.

Das Konzept der Betreuung einer „Folgeschwangerschaft“ sollte Ressourcen- und nicht Defizit-orientiert sein. Die Beschäftigung sollte sich von den Risiken, Gefahren und den Möglichkeiten des Scheiterns eher den Stärken der Schwangeren und ihrer Familie zuwenden.

Der Blick richtet sich auf das, was schon geschafft ist oder auf die Unterstützung, die von der Familie, von Freundinnen oder Kolleginnen kommt. So sollen Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitserleben gefördert werden. Kompetenz kommt nicht nur von den Ärzten, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln sollen, sondern von den Betroffenen selbst. Durch Vermittlung von Sachinformationen zum Verlauf einer Schwangerschaft, zu psychosomatischen Wirkmechanismen und zum Umgang mit Problemsituationen werden die werdenden Eltern selbst zu Experten. Die Bedeutung der Unterstützung durch das Umfeld (Partner / Familie) in praktischer und emotionaler Hinsicht wurde in einigen Studien belegt.

Als wichtige Ergänzung zum medizinischen Betreuungskonzept soll im Folgenden ein spezieller Geburtsvorbereitungskurs betrachtet werden, der die Möglichkeit einer kontinuierlichen und intensiven Begleitung in dieser schwierigen Zeit bietet.

 

Gruppe der guten Hoffnung.

Nach einem frühen Kindstod durch Fehlgeburt, Totgeburt oder Säuglingstod ist für Mütter und auch Väter die nachfolgende Schwangerschaft meist überschattet von Ängsten, Sorgen und unverarbeiteter Trauer.

Der Schritt in einen „normalen“ Geburtsvorbereitungskurs erscheint dann oft nicht möglich – auch, um andere werdende Eltern nicht zu belasten. Eine Gruppe für betroffene Schwangere und deren Partner bietet die Möglichkeit, durch Gespräche und Austausch sowie durch spezielle Körper- und Entspannungsübungen seelische Belastungen abzubauen und sich möglichst sorgenfrei auf das erwartete Kind einzustimmen.

Seit 20 Jahren gibt es in Aachen das Angebot einer solchen Schwangerengruppe für früh verwaiste Eltern. Da wir im Laufe der Jahre viele Erfahrungen mit unserem „Sonderkurs Geburtsvorbereitung“ sammeln konnten, scheint es nun an der Zeit, ein Resümee zu ziehen.

In den vergangenen Jahren hat sich organisatorisch und methodisch manches verändert. So ist die Gruppe nicht mehr an die Institution der Familienbildungsstätte angebunden, sondern wird nun im Rahmen einer Systemischen Beratungspraxis angeboten.

Das Zustandekommen einer solchen Gruppe ist nach wie vor schwierig. Die Bereitschaft, sich in einer Folgeschwangerschaft mit anderen Betroffenen zusammen zu finden, besteht vorwiegend bei Müttern und Vätern, die zuvor die Trauergruppe für früh verwaiste Eltern besucht (die in Aachen seit mehr als 25 Jahren kontinuierlich existiert!) und sich dort intensiv mit ihrem Verlust auseinandergesetzt haben. Ermutigt durch die dort gewonnenen positiven Erfahrungen – im Schonraum einer Gruppe ein Forum für Ängste und Probleme gefunden und Verständnis und Fürsorge in einer belasteten Situation erlebt zu haben – wagen Eltern eher den Schritt in eine spezielle Schwangerengruppe. Eine zusätzliche Motivation liegt zudem darin, im vertrauten Kreis „Bekannte“ aus der Trauergruppe wieder zu treffen und diese geschätzten Beziehungen zu vertiefen.

Fehlt dagegen eine solche Gruppenerfahrung, überwiegen oft die Vorbehalte gegen diese Kurse – so zum Beispiel die Befürchtung, dass sich die Ängste der Paare gegenseitig hochschaukeln oder dass die Gedanken und Gefühle immer wieder um das tote Kind kreisen und die vergangene Trauer erneut aufbrechen könnte.

Eine weitere Schwierigkeit, eine solche Gruppe durchzuführen, besteht in der höheren Abwesenheitsquote der Teilnehmerinnen, verursacht durch Komplikationen wie vorzeitige Wehen, Krankenhausaufenthalte oder Frühgeburten, die in Folgeschwangerschaften häufiger auftreten können.

„Die Höhle“, von Anika Müller
„Die Höhle“, von Anika Müller

Doch auch, wenn die Gruppe mit nur wenigen Paaren und nur an 5-10 Abenden stattfindet, ist der Gewinn für die Teilnehmenden hoch. Die innere Anspannung und Belastung, die eine Folgeschwangerschaft mit sich bringt, ist für Außenstehende nur sehr schwer nachvollziehbar. Es wird vielmehr von den werdenden Eltern erwartet, dass sie nun durchweg „guter Hoffnung“ sind und der Verlust des vorherigen Kindes für sie kein Thema mehr ist.

Bereits beim 1. Treffen stellen die Teilnehmerinnen meist mit großer Erleichterung fest, dass sie in diesem geschützten Raum ihre Geschichte erzählen können und mit ihren Ängsten und Unsicherheiten nicht mehr allein sind.

Spontane Äußerungen der Eltern (auf die Anregung, einen Satz zu dieser Schwangerschaft zu sagen) geben Aufschluss über die aktuelle Befindlichkeit der Paare und eine erste Orientierung für Kursleiterin und Teilnehmer.

 

„lch verdränge das Schwangersein noch so gut ich kann.“ (Schwangere nach SIDS)

„Mir fällt es schwer, mich auf das Baby zu freuen.“ (Partner)

„Ist noch alles in Ordnung? Ich arbeite an meiner Hoffnung. ”(Schwangere nach Totgeburt, 39. SSW)

„Für das, was ich erlebt habe, bin ich ziemlich relaxed.“ (Schwangere nach Uterusruptur)

„Nach langer Zeit der Angst geht mir jetzt plötzlich alles zu schnell.“ (Schwangere nach Frühgeburt, 25. SSW)

„lch bin total glücklich, dass wir endlich wieder schwanger sind!“ (Partner)

„Dieses Wechselbad der Gefühle bringt mich zur Verzweiflung.“ (Schwangere nach Abbruch wegen Trisomie 21)

„Ich beobachte mich doch sehr genau.” (Schwangere nach 3 Fehlgeburten)

„lch staune, was alles bei meiner Frau passiert – wozu die Natur fähig ist.“ (Partner)

 

Die Beispiele verdeutlichen den schwierigen Anpassungsprozess, den Eltern in einer Folgeschwangerschaft bewältigen müssen.

Diese anstrengende Gratwanderung zwischen Hoffen und Bangen wird in der Gruppe erleichtert durch

  • Austausch mit Paaren in ähnlicher Situation
  • Gegenseitige Unterstützung (seelisch /praktisch)
  • die Möglichkeit, dem toten Kind auch hier einen Platz einzuräumen
  • Konzentration auf die Begegnung mit dem werdenden Kind.

 

Vorrangig ist dabei immer das Eingehen auf aktuelle Bedürfnisse und auf die konkrete Situation der Teilnehmerinnen. Allen gemeinsam scheint das Bedürfnis zu sein, die tief greifenden Veränderungen zu reflektieren, die diese Schwangerschaft mit sich bringt – in Bezug auf das Körpergefühl der Schwangeren, auf Selbstwertgefühle der Mütter und Väter, die Paarbeziehung und das soziale Umfeld. Und nicht zuletzt auf die Trauer um das verlorene Kind, die durch die „gute Hoffnung“ eine neue Dimension erfährt.

Wie in den anderen Geburtsvorbereitungskursen gehören auch bei uns lnformationsabende mit zum angebotenen Repertoire. Gespräche mit einem Kinderarzt, einer Hebamme, sowie Kreißsaalführungen sind zugeschnitten auf diese spezielle Elterngruppe und werden von Fachleuten durchgeführt, die besonders sensibilisiert sind im Umgang mit trauernden Eltern.

Bei der fachlichen Begleitung einer solchen Gruppe ist unser wichtigstes Anliegen, eine Atmosphäre der Geborgenheit und Akzeptanz zu schaffen. Es gibt viele ambivalente Gefühle, die oft nur im Schonraum dieser Gruppe geäußert werden können: Schwierigkeit, sich auf ein „neues“ Kind einzulassen, Schuldgefühle, Gefühle der Untreue gegenüber dem verstorbenen Kind, Selbstzweifel und Versagensängste besonders der Mütter, Ängste im Hinblick auf Partnerschaftsprobleme, Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins insbesondere bei den werdenden Vätern.

Oft besteht gerade bei Eltern, die ihr Kind in der Schwangerschaft verloren haben, eine innere Blockade, zu dem nun erwarteten Kind eine Beziehung aufzubauen – aus der Angst heraus, wieder einen Verlust erleiden zu müssen und wieder in ihren Hoffnungen enttäuscht zu werden. Visualisierungsübungen sowie Einstimmung auf das Kind und Kontaktaufnahme mit ihm in körperlich-seelisch entspanntem Zustand können auf behutsame Weise dazu beitragen, diese Barrieren zu überwinden und innere Ressourcen zu mobilisieren.

 

Gerda Palm, Dipl.-Pädagogin, Systemische Familienberaterin, seit 1995 Trauerbegleiterin beim Verein Verwaiste Eltern e.V. Aachen. Mutter von drei lebenden Kindern. Ihr Sohn David wurde 1985 tot geboren.

Jan Salzmann, Dr. med., Hausarzt, Notarzt und Psychotherapeut, ist Vater von zwei lebenden Kindern. Die Drillinge Tim, Lina und Jonas sind 1994 nach einer Frühgeburt gestorben.

 

TENDER LOVING CARE

  • Vermittlung von Sicherheit und Geborgenheit
  • Psychologische Betreuung
  • Häufigere Arztbesuche mit Ultraschall- und Herztonkontrollen
  • Integration in eine Schwangerengruppe mit ähnlicher Problematik
  • Erlernen von Stressbewältigungsstrategien