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(K)ein Grund zur Trauer?

In den letzten Jahren hat sich an deutschen Kliniken Vieles verändert im Umgang mit dem perinatalen Kindstod. Noch vor 10 Jahren herrschte die Meinung vor: Je weniger Bindung die Eltern zu ihrem toten Kind entwickeln, umso leichter fällt ihnen das Loslassen.

Kein-Grund-zur-TrauerDas bedeutete in der Praxis eine schnell eingeleitete Geburt, ein rasches Beseitigen des toten Kindes, eine »Konspiration des Schweigens« (Lothrop). Dadurch sollte den Eltern – aber auch den Klinikmitarbeitern – der Schmerz erspart werden. Heutzutage bemühen sich Geburtshelfer und Gynäkologinnen nach Kräften, den Bedürfnissen früh verwaister Eltern gerecht zu werden. So ist in den meisten Kliniken bekannt, dass die Eltern möglichst viel Kontakt aufnehmen sollten zu ihrem sterbenden oder toten Kind, dass sie es kennenlernen müssen, um Abschied nehmen zu können, dass Erinnerungen an das Kind geschaffen werden sollten. Und dass ein totes Kind – unabhängig von seinem Geburtsgewicht – ein Recht darauf hat, mit Würde behandelt zu werden. All dies sind notwendige Voraussetzungen für Mütter und Väter, in einen heilenden Trauerprozess einzusteigen.

Ganz anders stellt sich dagegen die Situation dar für Frauen mit frühen Fehlgeburten. Diese beklagen immer noch einen offensichtlichen Mangel an Verständnis, Akzeptanz und Unterstützung von ärztlicher Seite. Meist beschränkt man sich auf die medizinische Versorgung, und es bleibt zu wenig Raum für Gespräche über die Trauer um das verlorene Kind oder über Ängste in Bezug auf eine Folgeschwangerschaft.

Vom Kind zum Zell-Konglomerat

»Was mein behandelnder Arzt in den ersten Wochen meiner Schwangerschaft als Kind oder Ihr Baby bezeichnete, wurde plötzlich zum Zell-Konglomerat, als er keine Herzaktion mehr feststellen konnte.« Ein Satz, der geradezu symptomatisch ist. Häufig erleben Frauen, die ihr Kind im 1. Trimenon der Schwangerschaft verlieren, eine große Verunsicherung durch die Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung (Verlustschmerz, Schuld- und Versagensgefühle) und der Bewertung durch das medizinische und soziale Umfeld (es war noch kein Kind, es besteht kein Grund zum Trauern).

Seit Jahren leite ich Trauergruppen für frühverwaiste Eltern, darunter auch eine Gruppe für Frauen nach Frühaborten. Ich stelle immer wieder fest, dass das Ausmaß der Trauer und der Beeinträchtigung des Wohlbefindens nicht abhängig ist von der Dauer einer Schwangerschaft, sondern vielmehr von individuellen Erfahrungen und Lebenssituationen der betroffenen Frauen. Während das Erleben einer Fehlgeburt für manche wenig belastend ist, leidet ein Teil der Frauen sehr stark unter dem Verlust des Kindes und aller damit verbundenen Hoffnungen und Visionen, dies betrifft insbesondere

  • Frauen mit intensivem Kinderwunsch,
  • Frauen, die lange auf die Schwangerschaft gewartet haben, sich dafür Behandlungen unterzogen haben,
  • Erstgebärende, deren Vertrauen in die Funktions- und Reproduktionsfähigkeit ihres Körpers erschüttert worden ist,
  • Frauen mit habituellen Aborten und
  • Frauen in fortgeschrittenem Alter.

»Nach-Sorge« als Hilfe zur Bewältigung

Für Ärztinnen und Ärzte ist es oft schwierig zu erkennen, ob eine Frau nach einer Fehlgeburt einer weiteren psychischen Betreuung bedarf – zumal verlustbedingte Krisen häufig erst nach Wochen oder Monaten auftreten. Einige hilfreiche Maßnahmen sollten jedoch jeder Frau in dieser Situation angeboten werden, da sie zur positiven Verarbeitung des Erlebten beitragen können:

  • Zeit geben: schrittweises Annähern an die Realität ermöglichen; Zeit lassen, sich innerlich vom Kind zu verabschieden, wenn möglich, den Zeitpunkt für eine Ausschabung von der Frau selbst bestimmen lassen;
  • Existenz des Kindes und die Realität des Verlustes erfahrbar machen: soweit möglich, die Eltern den Embryo ansehen lassen (auf Wunsch auch Gewebeteile), Ultraschallaufnahmen (auch des toten Embryos) zur Verfügung stellen;
  • Rituale des Abschiednehmens fördern: Eltern zur Namensgebung ermutigen; über Möglichkeiten der Bestattung von Föten informieren (z.B. Sammelbestattung durch die Klinik; Grabfeld für nicht bestattungspflichtige Kinder unter 500 g Geburtsgewicht);
  • den Partner in die psychische Betreuung miteinbeziehen: Männer stehen besonders heftigen Gefühlsregungen ihrer Frauen oft hilflos gegenüber;
  • im Nachgespräch noch offene Fragen der Frauen versuchen zu klären;
  • Informationen zu weiterführender Trauerbegleitung geben und Kontakte zu Selbsthilfegruppen vermitteln: Für viele Frauen ist eine Gruppe von Gleichbetroffenen der einzige Raum, wo sie ihre Gefühle aussprechen und ihrer Trauer Ausdruck geben können;
  • intensive ärztliche Betreuung in der Folgeschwangerschaft (»Tender loving care«-Konzept [1]) anbieten.

Gerda Palm, Aachen

Literatur:
1. Palm, Salzmann. GfG-Rundbrief 1997,1.
2. Palm. Jetzt bist du schon gegangen, Kind. Don Bosco Verlag 2001

(aus: Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Georg Thieme Verlag, Heft 1/2002, Seite 90/91)