Aachen. Jedes Jahr am zweiten Adventssonntag um 19 Uhr entzünden Menschen in der ganzen Welt Kerzen und stellen sie ins Fenster – zum Gedenken an ihre verstorbenen Kinder. Auch für die Aachenerin Gerda Palm ist dieser Tag etwas ganz besonderes.
Seit Jahren steht sie Müttern und Vätern, die ein Kind verloren haben, zur Seite. Denn die fühlen sich oft allein gelassen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz. Gerda Palm will ihnen helfen, ihren Verlust zu bewältigen, und sie weiß dabei sehr genau, worum es geht.
Vor mehr als 20 Jahren hat die 53-Jährige ihren eigenen Sohn während der Schwangerschaft verloren. Sie bekam das tote Kind nie zu Gesicht und damit auch nicht die Gelegenheit, sich von ihm zu verabschieden. „Das hat mein Leben verändert“, sagt sie heute.
Sie begann, sich in der Trauerbegleitung zu engagieren: zunächst in der Familienbildungsstätte und später im Verein „Verwaiste Eltern“. Nachdem die öffentlichen Gelder immer knapper wurden, arbeitet die studierte Diplom-Pädagogin heute freiberuflich als Trauerbegleiterin und als systemische Familienberaterin. Sie kennt die Schicksale unzähliger Menschen, die den Tod eines Kindes bewältigen müssen. Und sie weiß, wie ihnen am besten zu helfen ist.
Schon als Neunjährige stand sie ihrer älteren Schwester zur Seite, als deren Baby vier Wochen nach der Geburt starb. „Sie war so unermesslich traurig“, erinnert sich Gerda Palm, „und ich war die einzige, die mit ihr auf den Friedhof gehen wollte.“ Sie sei also gleichsam mit dem Thema groß geworden, erklärt sie. Es brauche viel Zeit und Geduld, um den Betroffenen helfen zu können, und Sätze wie: „Es ist doch nicht so schlimm. Du hast doch schon zwei Kinder“ oder „Beim nächsten Mal klappt es bestimmt“ könnten Mütter nach einem frühen Kindstod nicht trösten.
„Das ist, als wolle man den Verlust klein reden.“ Dabei bräuchten die Betroffenen die Zeit der Trauer. Sie wollen ihre Kinder im Gedächtnis behalten und die sollen ein Teil ihres Lebens sein, auch wenn sie die Welt nie gesehen haben. Rituale können dabei helfen. Zu Weihnachten etwa schneiden Eltern einen großen Zweig aus dem Tannenbaum heraus, und die Lücke soll daran erinnern, dass im Kreise der versammelten Familie eigentlich jemand fehlt. Und wenn sie den abgeschnittenen Zweig auf den Friedhof zum Grab ihres toten Kindes tragen, finden sie darin Trost.
In der Trauer liege zudem ein großes Potenzial an Energie, sagt Gerda Palm. Es existiere „eine intensive Wahrnehmung der Gefühle und ein intensives Erleben“. Aufgabe der Trauerbegleiterin sei, die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, und den Betroffenen einen Raum zu bieten, in dem sie alle Gefühle zulassen können. Die Heilung erfolge dann ganz von selbst – bei dem einen früher, bei dem anderen später.
Nur eine Aufgabe
Für Gerda Palm ist die Arbeit mit den Betroffenen aber nur eine der Aufgaben, die sie sich gestellt hat. In Fortbildungsveranstaltungen zeigt sie Ärzten und Pflegepersonal, wie sie mit trauernden Eltern umgehen können. Denn vor allem das Personal in den Krankenhäusern habe Angst, mit einer solchen Situation konfrontiert zu werden. Wie sollen sie sich verhalten? Was können sie tun?
Heute bekommen die Mütter ihre Kinder zu Gesicht, auch wenn sie tot zur Welt kommen oder nach der Geburt sterben. Man legt sie in ein kleines Moses-Körbchen und gibt den Eltern Gelegenheit, ihr Kind kennenzulernen, es zu sehen, denn erst dann können sie Abschied nehmen. Es werden Fotos gemacht und viele Eltern finden einen Trost darin, die Bilder ihren Freunden und Angehörigen zu zeigen. Denn es ist ihr Kind – auch wenn es tot ist. Und deshalb zünden sie jedes Jahr zum zweiten Adventssonntag eine Kerze im Fenster an, um der verstorbenen Kinder zu gedenken.
Auch Gerda Palm tut das jedes Jahr für ihren Sohn David. Zudem sorgt sie bereits zum dritten Mal dafür, dass betroffene Familien in einer gemeinschaftlichen Todesanzeige ihrer verstorbenen Kinder gedenken können. Die Anzeige wird am Samstag, 8. Dezember, in den „Nachrichten“ erscheinen. Etwa 60 Kinder sind dort namentlich aufgeführt. Daneben steht ein Gedicht und der Satz: „Wir trauern um unsere Kinder.“
Weil Gerda Palm vor allem von trauernden Menschen umgeben ist, die großes Leid erleben, tut sie alles Erdenkliche, um nicht selbst „mit in den Abgrund zu stürzen“. Ein großer Halt sei ihr die Familie, sagt sie. „Meine drei erwachsenen Kinder sind für mich das größte Geschenk, für das ich jeden Tag dankbar bin.“ Aber auch lange Spaziergänge, Musik und Tanz tragen dazu bei, dass sich die 53-Jährige ihr seelisches Gleichgewicht erhalten kann.
Beruf ausdehnen
Zurzeit denkt sie darüber nach, ihre beruflichen Aktivitäten noch weiter auszudehnen. Der jüngste Sohn ist bald aus dem Haus. „Auch hier heißt es Abschiednehmen“, sagt Gerda Palm mit Wehmut. Doch sie will die Zeit nutzen: Schon vor einiger Zeit hat sie ihr Angebot erweitert, und begleitet beispielsweise auch junge Witwen und Witwer in ihrer Trauer.
Sie leitet Gruppen für Schwangere und ihre Partner, die zuvor ein Kind verloren haben, und hilft ihnen dabei, die Angst zu überwinden. Daneben unterstützt sie in ihrer Beratungspraxis Menschen in anderen schwierigen Lebenssituationen – auch wenn diese nicht gleich mit Tod und Trauer zu tun haben.
Der Tod ihres Sohnes habe ihr Leben entscheidend geprägt, sagt Gerda Palm. Und obwohl sie ihn nie kennen lernen durfte, habe er ihr viel gegeben.
Gerda Palm hat auch ein Buch zum Thema veröffentlicht. Zur Zeit ist es allerdings vergriffen und nur bei ihr selbst erhältlich.
Gerda Palm: „Jetzt bist du schon gegangen Kind. Trauerbegleitung und heilende Rituale mit Eltern früh verstorbener Kinder“, Don Bosco-Verlag.
Aachener Nachrichten, 05.12.2007, 18:15 Uhr